Das Interview wurde kruz vor
dem Attenat durchgeführt!
Von Eugen Sorg Frankfurter Rundschau
Warum, Ahmed Schah Massud,
sind Sie eigentlich immer noch am Leben?
"Ich weiß
nicht, warum ich überlebt habe. Unser Schicksal liegt in Gottes
Hand."
Der afghanische Kommandant,
laut Wall Street Journal der "Mann, der den Kalten Krieg beendete",
auch "Löwe vom Panshir" genannt, seit 26 Jahren an
der Front, Anführer der letzten Bastion gegen die Taliban, die
von Pakistan gelenkten Brutal-Islamisten, Kommandant Massud lacht
zum ersten Mal seit einer Stunde. Ein bubenhaftes Grinsen, das ein
wenig an Robert De Niro erinnert und nicht so recht zum fatalistischen
Verweis auf den Allmächtigen passt.Vielleicht haben Sie auch
gut auf sich aufgepasst.
"Früher bewegte
ich mich ständig. Nie blieb ich zwei Nächte am selben Ort.
Noch vor dem ersten Gebet, noch bevor mich der erste Lichtstrahl des
Tages für einen Piloten sichtbar gemacht hätte, war ich
wach und bereits unterwegs. Ich wusste am Morgen nie, wo wir mittags
und abends das Essen einnehmen und wo wir übernachten würden.
Nichts wurde geplant. Und wenn ich an einem Ort ankam, unter einem
Baum oder in einem Garten, und mit den Leuten sprach, um zu hören,
was sie dachten, bewegten wir uns gleichzeitig langsam weiter. Darum
verfehlten mich die russischen Bombenangriffe immer um sechs, zehn
Stunden."
Wir treffen Massud in seinem momentanen
Hauptquartier in Khwaja Bahauddin, einem staubigen, heißen,
Skorpion- und Malaria-verseuchten Kaff im Nordosten Afghanistans.
Bis hierhin haben ihn die vordringenden Truppen der Taliban gejagt.
Der Ort liegt an der Schwemmebene des Amu Darya, an dessen anderem
Ufer Tadschikistan beginnt. Von dort werden die für Massuds Nordallianz
wichtigsten Güter angeliefert: Waffen und Munition aus dem Iran
und Russland.
Ein Taliban-Sprecher ließ neulich
verlauten, dass seine Männer noch vor Ende dieses Jahres das
ganze Land erobern würden. Was ist Ihre Prognose?
"Es ist nicht machbar, was er sagt,
und es ist unvernünftig. Wir haben es früher angekündigt,
und wir wiederholen es heute: Es gibt keine militärische Lösung
für Afghanistan."
Sie selber setzen aber seit jeher auf
Krieg.
"Wir wehren uns gegen fremde Einmischung,
gegen die Einmischung Pakistans, und unser Widerstand soll die Taliban
zwingen, sich auf Verhandlungen einzulassen."
Er würde sich irgendwann in den
nächsten Tagen Zeit für ein Interview nehmen, hatte Massud
uns ausrichten lassen. Um den Termin auf keinen Fall zu verpassen,
bezogen wir Stellung unter einem schattigen Ahornbaum im Garten des
Hauptquartiers. Noch andere saßen da mit uns. Es spricht sich
sofort herum, wenn Massud wieder im Ort ist, und alle, die irgendein
Problem zu lösen haben, versuchen bei ihm vorzusprechen. Wie
bei einem Khan, einem traditionellen Stammesvorsteher.
Ein Mujaheddin in abgewetzten Turnschuhen
will die Bitte vortragen, dass er und seine Kameraden das Essen für
die Front nicht mehr selbst von zu Hause mitbringen müssen. Ein
anderer benötigt einen Transport in sein Dorf in einer entfernten
Provinz, da sein Vater gestorben ist. Ein Bauer mit einem fleckigen
Turban will eine Bestätigung in einer verwickelten Geschichte
um einen zu hohen Brautpreis. Ein zweiter will seinen Sohn, wegen
Diebstahls in Haft, nach Hause holen, da er ihn dringend für
die Feldarbeit braucht. Und ein aus Kabul geflüchteter Schauspieler,
der die ganze Runde mit einer grimmigen Parodie auf Mullah Omar, den
Chef der Taliban, zum Lachen bringt, will die Unterstützung für
einen Film über die Gotteskrieger.
Immer wieder stoßen neue Leute
hinzu. Und die meisten werden im Laufe dieses oder eines der folgenden
Tage in ein kleines Lehmgebäude geführt, das als Massuds
Büro dient. Zwischen Kriegsplanung mit den Frontkommandanten,
Unterredungen mit verschiedensten Emissären und langen Gesprächen
am Satellitentelefon hört sich Massud die Anliegen der eingeschüchterten
Bittsteller an. Oft kommen Letztere mit einem Fetzen Papier nach einigen
Minuten wieder heraus. Massud hat persönlich eine Anordnung oder
eine Bewilligung darauf gekritzelt. Einige Male sehen wir Massud kurz,
wenn er Be-sucher zum Abschied zur Tür geleitet oder wenn er
das Büro verlässt, um zu beten.
Er bewegt sich nie schlendernd oder
plaudernd, sondern immer zielstrebig und konzentriert. Wenn er stehen
bleibt, dann nur, um einen Soldaten zurechtzuweisen oder einem Kommandanten
einen Auftrag zu erteilen. Keine Frage: Er ist ein Mensch, der keine
Sekunde seines Lebens für etwas verschwendet, das nicht einem
klar definierten Zwecke dient. Und er scheint alles selbst kontrollieren
zu wollen. Von der Wahl neuer Uniformknöpfe bis zur Entscheidung
über Krieg und Frieden.
Massud kam vor 49 Jahren in Jangalak
zur Welt. Jangalak heißt "kleine Welt" oder "kleiner
Dschungel" und liegt im Panshir, einem fruchtbaren, sanft ansteigenden
Tal im Hindukusch nördlich von Kabul. Sein Vater war Offizier
in der königlich-afghanischen Armee und hatte elf weitere Kinder
mit drei Frauen. Massud absolvierte in Kabul das französische
Gymnasium, begann ein Ingenieur-Studium, das er nach einem Jahr wieder
abbrach.
Es war Ende der 60er Jahre, und auch
der Campus von Kabul war von der damals weltweiten Unrast befallen.
Für die umsturzfreudigen Studenten gab es zwei Optionen: Kommunismus
oder politischer Islam. Massud wählte Letzteren und schloss sich
dem Kreis um Professor Rabbani an, dem Islamisten, Schriftsteller
und Führer der Jamiat-i-Islami-Partei.
1973 putschte sich Mohammed Daud, ein
Cousin des Königs Zahir Schah, mit Hilfe der Kommunisten an die
Macht. Der diktatorische rote Prinz verjagte seinen Onkel ins italienische
Exil, schaffte die Monarchie ab, belohnte die Kommunisten mit Ministersitzen
und begann bald mit dem Bau des ebenso berüchtigten wie gigantischen
Gefängnisses von Pul-i- Charkhi, wo er seine islamistischen Feinde
einkerkern wollte. Diese hatten 1975 einen bewaffneten Aufstand angezettelt,
der aber in einem Debakel endete. Die Bevölkerung schloss sich
den jungen Rebellen nicht an, und Daud nahm furchtbare Rache.
Der 23-jährige Massud war einer
der Rebellen-Anführer gewesen. Er konnte mit Glück sein
Leben retten und tauchte unter. Sein langer Krieg hatte begonnen.
Daud wurde erst drei Jahre später gestürzt. Im Frühjahr
'78 wurden er, seine Familie und seine Leibwache von den Kommunisten
erschlagen, die aber bereits wenig später damit begannen, sich
untereinander abzuschlachten. Gleichzeitig leiteten sie die marxistische
Beglückung des Volkes so brutal ein, dass sich wenig später
zwei Drittel des Landes in offenem Aufruhr befanden. Wobei die Erhebungen
nur an wenigen Orten organisiert waren. Wie im Panshirtal, wo Massud
mit seinen Getreuen ein Widerstandsnetz aufgebaut hatte...
Am Morgen des vierten Tages werden wir
in Massuds Büro gebeten, einen kahlen, provisorisch möblierten
Raum. Der Kommandant werde gleich hier sein, bescheidet uns ein junger,
smart wirkender Mitarbeiter in perfektem Englisch. Zehn Minuten später
steht Massud vor uns. Ich hatte kaum bemerkt, wie er eingetreten war
und uns alle blitzschnell gemustert hatte - mit einem derart intensiven
Blick, dass man ihn beinahe körperlich spüren konnte. Doch
als ich seinen Blick erwidern will, schaut er vorbei und versteckt
sich hinter einem abwesenden, fast schläfrigen Gesichtsausdruck.
Wie einer, der sich nicht in die Karten schauen lassen will. Einer,
der sehen, aber nicht gesehen werden will.
Massud ist schlank und auf eigenartige
Weise elegant: das volle, sorgfältig frisierte Haar, der melierte
Kinnbart, das dezent abgestimmte Graubraun seiner Feldkleidung, die
Hände, gepflegt wie die eines Pianisten, die Stiefel aus weichem
Leder, das herrisch-scharf geschnittene Gesicht. Sobald das Gespräch
beginnt, verschwindet seine offensichtlich gespielte Schläfrigkeit
sofort, und er wirkt präsent und konzentriert.
Als das kleine afghanische Bruder-Regime
gefährlich zu wanken begann, fällten die Herren in Moskau
einen folgenschweren Entschluss. Um den Einfluss an der Südflanke
zu sichern, überquerte an Weihnachten '79 die Rote Armee den
Amu Darya und besetzte Afghanistan. Der Westen war schockiert, und
die Nato konterte mit der Stationierung einer neuen Generation von
Langstreckenraketen mitten in Europa. Kurz nach dem Einmarsch erhoben
sich in sämtlichen Regionen, in allen Talschaften, Hochebenen
und Oasen die Männer zum Dschihad, zum Heiligen Krieg. Die Bewaffnung
war anfangs oft abenteuerlich, mit Büchsen sogar aus der zaristischen
Zeit. Es gab keinerlei einheitliche Kommandostrukturen, keine strategische
Planung, keine taktische Koordination.
Afghanistan war bis dahin ein unbekanntes
orientalisches Märchenland, in das Hippies reisten, um Haschisch
zu rauchen, und aus dem sie den seltsamen Brauch importierten, die
Matratze ohne Bettgestell direkt auf den Boden zu legen. Jetzt war
es in dramatisch kurzer Zeit zum Zentrum der Weltpolitik, zur heißesten
Zone des Kalten Krieges geworden. Mit angehaltenem Atem verfolgte
der Westen, vor allem die Militärs, die fernen Ereignisse.
Mit mir in Massuds Büro ist der
Moskau-Korrespondent des Pariser Figaro. Bevor wir mit dem Interview
beginnen können, weist uns Massud mit einer kaum merklichen,
aber trotzdem unmissverständlichen Geste an, die Tonbandgeräte
noch nicht einzuschalten. Dann fängt er an, den Franzosen über
die Situation in Tschetschenien auszufragen: Ob es einfach sei, nach
Grosny zu gelangen. Ob dort immer noch gekämpft werde. In welchen
Stadtteilen. Welche Partei die Leute wirklich unterstützen würde.
Ob die Russen immer noch die gleiche Taktik wie in Afghanistan anwenden
würden. Wer der Führer der Wahabiten sei. Ob es einen politischen
Führer gebe. Er stellt kurze, zielgerichtete und präzise
Fragen, ohne die Antworten zu kommentieren und ohne preiszugeben,
was er bereits darüber weiß. Wie ein vorgesetzter Offizier,
der einen Lagebericht abnimmt. Und der Franzose, den ich eben noch
als außerordentlich redseligen Menschen kennen gelernt habe,
antwortet plötzlich in einem Stakkato, als müsste er militärischen
Rapport erstatten.
Es geht etwas Zwingendes, Ernstes von
Massud aus, etwas, das jede Leichfertigkeit, jedes Fraternisieren
oder Augenzwinkern verbietet. Die Bediensteten wagen nicht, ihm in
die Augen zu schauen, aber auch die abgebrühten Frontgeneräle
entwickeln eine nervöse Beflissenheit, wenn sie ihm gegenüberstehen.
Ein Foto aus dem Jahre 1985 zeigt im
Vordergrund einen unbewaffneten Massud, während hinter ihm seine
Truppe mit Kalaschnikows posiert. 50 Krieger, grimmige, wilde, abenteuerlich
gewandete Bergler, Männer, die den Tod als Feigling verspotten.
Sie alle gehorchten Massud, waren ihm ergeben, verrieten ihn nicht.
Was natürlich mit seinem Rang und Ruf zu tun hatte, aber nicht
nur. Massud strahlt eine innere Kraft, eine magnetische Autorität,
einen überlegenen Willen aus, dem sich keiner entziehen kann
und vor dem sogar die Hunde instinktiv den Schwanz einziehen. Der
Mann hat Charisma.
Die westlichen Militärexperten
mussten allerdings auch feststellen, dass den bärtigen Helden
der letzte Schliff fehlte. Zwar wurden die Angriffe mit wilder Unerschrockenheit
vorgetragen, doch die Verluste waren entsprechend hoch. Es wurde herumgeballert,
aber nur wenig getroffen. Mit einer Ausnahme.
Im Panshir war es Kommandant Massud
gelungen, eine moderne Truppe aufzubauen, mit modulartigen Einheiten,
die auch weit außerhalb der eigenen Stützpunkte eingesetzt
werden konnten. Zum Beispiel auf der Route von Mazar-i-Sharif nach
Kabul, der wichtigsten Versorgungsachse von Moskaus Armee.
Die tödlich präzisen Schläge
der professionellen mobilen Kommandos begeisterten die westlichen
Beobachter, die in Massud einen "genialen Strategen", einen
"Napoleon des Hindukusch" erkannten. Die Russen hingegen
trieben sie zur Raserei. Sechs Mal versuchten sie, das Panshirtal
einzunehmen - jedes Mal scheiterten sie. Massud sollte ihr größter
Albtraum werden. Die Kommunisten probierten es mit einer subtileren
Taktik. In Geheimverhandlungen schlossen sie mit Massud einen Waffenstillstand
und boten ihm Autonomie für sein Tal an. Sie erwarteten, dass
er im Gegenzug auf seine Ausfälle verzichten würde.
Bei den meisten anderen Kommandanten
wäre die Rechnung aufgegangen. Die afghanische Gesellschaft gliedert
sich nach Familien, Clans und Stämmen. Diese bilden den politischen
Horizont, für diese kämpft man, und nicht für eine
abstrakte Idee wie Nation oder Demokratie.
Massud erwies sich auch hier als außergewöhnlich.
Er ließ sich ausgiebig Zeit mit einer Antwort, nützte aber
die Waffenruhe sofort, um über seine Region hinaus politisch-militärische
Allianzen im ganzen Nordosten zu knüpfen. Als die Sowjets ihren
strategischen Irrtum bemerkten, schworen sie, Massud endgültig
zu vernichten.
Der siebte Vorstoß im Frühjahr
'84 war ihre größte Operation seit Beginn der Okkupation.
Während 15 Tagen und Näch-ten deckten sie das Panshir mit
einem dichten Bombenteppich zu. Der Höllenlärm der explodierenden
Geschosse, verstärkt durch die Trichterform des Tales, muss auf
dem Mond zu hören gewesen sein. Dann fielen 25 000 Rotarmisten,
die man mit Helikoptern auf den seitlichen Gebirgshöhen abgesetzt
hatte, in die Dörfer ein. Von den Enden des Tales bewegten sich
gepanzerte Wagenkolonnen langsam aufeinander zu. Eigentlich hätte
keine Maus entkommen dürfen...
Mit einem Kopfnicken signalisiert Massud,
dass er bereit sei, auf unsere Fragen einzugehen. Er ist ein genauer
Zuhörer. Wenn er glaubt, etwas nicht ganz verstanden zu haben,
hakt er nach. Seine Antworten kommen meist prompt, er formuliert gradlinig,
verständlich, ohne zu stocken. Man kann mit ihm über alles
reden, er ist beweglich, aufmerksam, aber früher oder später
landet er immer wieder beim selben Thema: Massud spricht am liebsten
über Taktik und Strategie. Über Offensiven, Allianzen, taktische
Rückzüge, Truppenmassierungen, Frontverschiebungen, Überläufer,
Kriegslisten, Hinterhalte, Niederlagen des Feindes. Und immer wenn
er vom Feind redet, früher von den Russen, dann von Hekmatyar,
heute von den Pakistani, bekommt er für einen kurzen Moment ein
hartes Gesicht.
Beim Anschauen von Fotos und Dokumentarfilmen
fragte ich mich immer, was wohl in Massuds Kopf vorgehe. Er wirkte
oft nachdenklich, versonnen, konzentriert wie in einem Gebet. Nun
schien mir alles ganz einleuchtend. Massud dachte über den Krieg
nach. So, wie ein Heiliger über Gott nachdenkt. Unablässig,
bei jeder Gelegenheit. Was sind die Absichten des Gegners, wie kann
ich ihnen zuvorkommen, wo kann ich ihn treffen? Massud, das war gelebte
Kriegskunst.
An einem der Abende hat man uns im Hauptquartier
zum Essen eingeladen. Die Tür zum Nebenzimmer, in dem Massud
sitzt, ist offen. Er unterhält sich mit dem Frontkommandanten
Fahim, einem dicken, kleinen Mann mit weißem Gewand und Kartoffelnase.
Draußen ist es schon ziemlich dunkel, als ein Soldat Massud
eine Dose Moskito-Spray hinstreckt. Massud schüttelt die Dose,
dreht sich nach links, sprayt gezielt einmal hinter und einmal vor
sich auf den Boden, dreht sich nach rechts und tut nochmals dasselbe.
Ich brauche zwei Sekunden, bis ich verstehe. Er hat soeben ein Abwehrdispositiv
errichtet. Sogar für den Kampf gegen die Mücken entwickelt
er ein strategisches Konzept.
Die Sowjets stießen auf keine
Gegenwehr. Das Tal war komplett leer. Gewarnt durch seine Agenten,
hatte Massud einige Tage vor dem Bombardement die ganze Bevölkerung
evakuieren lassen. 50000 Menschen waren seinen Männern in die
umliegenden Berge gefolgt. Und noch im selben Jahr trieben die Mujaheddin
die Besatzer wieder hinaus. Die Russen verloren 2000 Soldaten und
versuchten nie wieder, einen Fuß ins Panshir zu setzen. Die
zurückkehrenden Bewohner fanden dafür ein Desaster vor.
Obstkulturen waren abgeholzt worden, Bewässerungsanlagen gesprengt,
und von allen Häusern im Tal waren noch drei intakt. Der Rest
war zerbombt, gesprengt, mit Flammenwerfern ausgebrannt worden. Aber
Massud hatte seine Leute beschützt.
Im ganzen Land wurde an der Legende
vom Löwen vom Panshir, vom Adler vom Panshir, vom unbesiegbaren
Krieger weitergesponnen. Sein Bild hing nicht nur im Heimattal oder
in Häusern von Tadschiken (Massud ist Tadschike), sondern auch
in solchen von Paschtunen oder Usbeken oder Nuristani.
Die USA stellten dem antikommunistischen
Aufstand insgesamt drei Milliarden Dollar zur Verfügung. Deren
Verteilung delegierten sie bald an Pakistan. Das selber zutiefst zerrissene
und von notorischen Dieben und skrupellosen Militärs regierte
Land hatte alles Interesse an einem schwachen benachbarten Afghanistan.
Geld verteilte es folglich nur an die Mujaheddin-Führer, die
sich am gehorsamsten ihren außenpolitischen Wünschen unterwarfen.
Im pakistanischen Peshawar sammelte
sich mit der Zeit ein Heer von schmarotzenden Kommandanten, die nicht
mehr kämpfen, sondern sich nur noch bereichern wollten. Zum Beispiel,
indem sie die für den Widerstand bestimmten Waffen umgehend auf
dem Schwarzmarkt weiterverkauften. Hauptgünstling der Pakistaner
jedoch war der Paschtune Gulbuddin Hekmatyar, ein hochintelligenter,
aber heimtückischer und grausamer Kriegsherr, der dafür
berühmt werden sollte, mehr eigene Landsleute umgebracht zu haben
als kommunistische Besatzer.
Massud blieb den ganzen Dschihad über
im Lande. Er kämpfte zusammen mit seinen Leuten an der Front.
Nie hätte er sich vor einen fremden Karren spannen lassen. Er
war stolz, eigensinnig, nicht käuflich. Der militärische
Geheimdienst der Pakistaner, ISI, nahm ihn daher auch nicht auf die
Liste der Begünstigten. Die Waffen, mit denen Massud und seine
Leute kämpften, waren größtenteils eigenhändig
vom Feind erbeutet worden. Die afghanische Bevölkerung wusste
um die Machenschaften in Peshawar. Um so heller strahlte Massuds Stern.
Wir bedanken uns bei Massud für
das Interview, er liest noch zwei, drei Zettel, die man ihm hingestreckt
hat, als er plötzlich aufsteht und den Raum verlässt. Schnell
wie üblich, ohne rechts oder links zu schauen, eilt er durch
den Hof, auf seinen japanischen Geländewagen zu. Die ganze Umgebung
gerät augenblicklich in Bewegung. Bedienstete springen auf, seine
Bodyguards spurten los, jemand reißt die Wagentür auf,
und Massud verschwindet hinter den getönten Scheiben. Ein paar
Sekunden später setzt sich eine Kolonne von fünf Autos in
Bewegung. Da Massud nie ankündigt, wann und wohin er geht, rennen
wir einfach mit den anderen los und springen in den letzten Jeep -
in der Hoffnung, Massud irgendwohin begleiten zu können.
Nach einer einstündigen, holprigen
Fahrt gelangen wir auf eine von Bergketten gesäumte Hochebene.
Rund 300 Soldaten machen hier Schießübungen. Es sind Neulinge
- Dörfler mit sonnenverbrannten Gesichtern und struppigen Haaren.
Massud nimmt ein Gewehr, macht vor, wie man schießt, lässt
zwei oder drei der Soldaten schießen, kommentiert, korrigiert,
lobt. Er spielt den General, der sich um seine Männer kümmert,
und er scheint gerne zu spielen.
Wir fahren weiter zu einem Panzerübungsplatz.
Massud klettert auf einen Tank und spricht dort oben etwa 20 Minuten
mit dem Kommandanten, einem jüngeren, dandyhaften Typ. Dem Tanz
seiner Hände nach zu schließen, erläutert Massud Gefechtssituationen,
Angriffe, Zangenbewegungen, plötzliche Vorstöße. Der
Auftritt wirkt leicht theatralisch, überinszeniert, aber wie
schon bei den Schießübungen scheint sich Massud in der
Rolle wohl zu fühlen.
Im Februar '89, knapp zehn Jahre nach
ihrem Einmarsch, traten die letzten kommunistischen Truppen wieder
den Rückzug an. Die bis dahin ungeschlagene Armee war gedemütigt
worden von überwiegend analphabetischen Berglern und Wüstenbewohnern,
einem Volk in Sandalen, das sich wie vor 2000 Jahren noch vorwiegend
auf Eseln fortbewegte.
Wenig später sollte es auch mit
dem gesamten Sowjet-Imperium vorbei sein. Der 1986 von den Sowjets
installierte Präsident Najibullah, ehemaliger Chef des kommunistischen
Geheimdienstes, konnte sich noch eine Weile halten. Dann wurde er
verraten. General Dostam, die "eiserne Ferse" des alten
Regimes, wechselte mit seinen Usbekenkriegern ins Lager Massuds. Der
Weg nach Kabul war endlich frei.
Im April 1992 fuhren Massud und seine
triumphierend lachenden Mujaheddin auf sowjetischen Panzern in die
Hauptstadt ein. Najibullah war bereits gestürzt und verhaftet
worden. Es war die Stunde von Massuds größtem Triumph.
Alles schien erreicht. Doch dann sollten die Dinge einen fürchterlichen
Verlauf nehmen...
Afghanistan war nie eine Nation gewesen,
sondern ein fragiles und kompliziertes Gebilde aus Clans und Stämmen,
die argwöhnisch darüber wachten, dass keiner den anderen
dominierte. Der Krieg hatte das Gleichgewicht der Eifersucht tief
gestört. Neue Gruppen waren plötzlich mächtig geworden,
andere hatten Einfluss verloren. Begehrlichkeiten waren geweckt worden,
Machthunger, Gier, Rachegelüste, Hass. Keiner traute mehr dem
anderen, jede Gruppe vermutete, die andere wolle sie übervorteilen.
Das Land war ruiniert, aber voller Waffen. Afghanistan glitt in die
Hölle der Gesetzlosigkeit.
Die neue Regierung mit Präsident
Rabbani und Verteidigungsminister Massud war unfähig, für
sichere Verhältnisse zu sorgen. Kaum waren die beiden Tadschiken
vereidigt worden, begann der paschtunische Kriegsfürst Hekmatyar,
Kabul zu bombardieren. Der brutale, bauernschlaue Usbekengeneral Dostam
wandte sich ebenfalls plötzlich gegen Massud, und er bekam Waffenhilfe
von Einheiten der Hazara, einer mongolisch-stämmigen Minderheit
aus Zentral-Afghanistan.
Mitten in der Hauptstadt tobten Artillerieduelle.
Ruhigere Momente nutzten die Krieger, um zu plündern und nach
Frauen zu jagen. Massud konnte verbündete Milizen nicht daran
hindern, in ein von Hazara bewohntes Quartier einzudringen, um unter
den Zivilisten ein Blutbad anzurichten. Und auch die eigenen, sonst
für ihre Disziplin bekannten Truppen marodierten. Kabul verwandelte
sich in eine Geröllhalde. Und Massuds Ansehen sank.
In einem Nachbardorf von Jangalak, Massuds
Heimatort, wird jede Woche die "Botschaft des Mujaheddin"
produziert, ein dünnes Blatt mit einer kleinen Auflage. Ich frage
Herausgeber Afiz Mansur, welche Fehler Massud in Kabul gemacht habe.
Mansur, etwa 40 Jahre alt, mit Brillengläsern so dick wie Butzenscheiben,
hinter denen ein Paar streitlustige Augen blinken, überlegt nicht
lange. Etliche, sagt er. Erstens habe Massud Kabul eingenommen, ohne
vorher Beziehungen mit dem Ausland aufgebaut zu haben. Mit dem Resultat,
dass Pakistan dachte, er habe Beziehungen zum Iran, und der Iran glaubte,
er arbeite mit Pakistan zusammen. Also hätten sich alle eingemischt
und ihre eigenen Fraktionen unterstützt, Pakistan zuerst weiterhin
Hekmatyar, der Iran die schiitischen Hazara, die Saudis den Wahabiten
Sayyaf, während Massud ganz allein da stand. Und stolz sei er
geworden und arrogant, meint Mansur. "Ich bin mächtig, ich
habe die Russen besiegt, ich gebe die Befehle hier" - so sei
seine Haltung gewesen.
Er sei wirklich der überragende
Kommandant im Lande, auch der Einzige, der die gefangenen Feinde menschlich
behandelt habe. Und der Einzige, der sich nicht persönlich bereichert
habe. Aber er sei Kommandant geblieben und habe sich nie zum Politiker
gewandelt. Dies habe aber zu Zwist mit Kollegen geführt, mit
dem Präsidenten Rabbani beispielsweise. Und weil er viel befahl,
aber wenig Rat einholte, sei er kein guter Politiker gewesen. Aber
Massud, sagt Mansur, habe hinzugelernt.
Kommandant Massud, sind Sie mitverantwortlich für die Zerstörung
von Kabul?
"Die Männer,
die ich um mich hatte, waren überhaupt nicht vorbereitet, ein
Land zu regieren. Die meisten unterbrachen wegen des Kriegs ihre Ausbildung.
Es gab niemanden, der die Arbeit der Behörden hätte kontrollieren
können. Die Polizei besaß keine Mittel, um dem Gesetz Respekt
zu verschaffen."
Man hört, dass
Ihre Männer von der Bevölkerung schließlich genauso
gehasst wurden wie die der anderen Milizen. Was war Ihre Rolle?
"Ich war vollständig
mit dem Krieg beschäftigt und konnte den Vorgängen in meiner
Umgebung nicht genügend Aufmerksamkeit schenken."
Als neue Kraft im afghanischen Bürgerkrieg
tauchten im Frühjahr 1994 die Taliban auf. Von Kandahar im Süden
kommend, eroberten sie in verblüffendem Tempo Provinz um Provinz,
ohne Schüsse abzufeuern. Sie hatten anfangs die Unterstützung
der Bevölkerung, weil sie die räuberischen Warlords entwaffneten.
Und sie hatten Geld, mit dem sie die gegnerischen Kommandanten kauften.
Obendrein hatte Pakistan den erfolglosen Hekmatyar fallen gelassen
und alimentierte fortan die Taliban. Im Spätsommer 1996 kreisten
diese Kabul ein.
Massuds Abwehrfront im Südosten
der Stadt war völlig überraschend zusammengebrochen. Die
Taliban hatten den Befehlshaber mit angeblich zehn Millionen Dollar
bestochen. Massud realisierte, dass er die Stadt nur unter größten
Opfern würde halten können. Innerhalb weniger Stunden organisierte
er den Rückzug ins Panshir und gab Kabul kampflos auf.
Als die Taliban bereits an der Stadtgrenze
angelangt waren, schickte Massud einen seiner Generäle zu Najibullah.
Der letzte Präsident der kommunistischen Regierung wurde seit
vier Jahren unter Schutzaufsicht der Uno in Kabul festgehalten. Massud
bot ihm an, mit ihm die Stadt zu verlassen und ihn sicher in den Norden
zu bringen. Najibullah lehnte ab. Er vertraute darauf, dass ihn die
Taliban verschonen würden. Er war schließlich Paschtune,
genau wie sie.
Die Taliban holten sich als Erstes Najibullah.
Sie schlugen ihn und den anwesenden Bruder halb tot, warfen die beiden
auf einen Pick-up und fuhren zum Präsidentenpalast. Dort kastrierten
sie Najibullah, banden ihn mit einem Strick an den Pick-up und schleiften
ihn mehrere Runden um den Palast. Dann endlich erlösten sie ihn
mit drei Kugeln. Der Bruder wurde erdrosselt. Mit einer Drahtschlinge
um den Hals hängten die Taliban die beiden Körper an eine
Verkehrskanzel vor dem Palast. Sie steckten ihnen Zigaretten zwischen
die Finger und in die Taschen ein Bündel Banknoten - als Zeichen
ihrer Verworfenheit und Korrumpiertheit. Und als Zeichen für
die Kabuler.
Über "Radio Sharia",
wie "Radio Kabul" nun hieß, konnten diese schon 24
Stunden später die Gesetze der neuen Herren erfahren. Dieben
würden Hände und Füße amputiert, Ehebruch würde
mit Steinigung und Alkoholbesitz mit Auspeitschen bestraft. TV, Video,
Fotos, Musik, Spiele (inklusive Schach), Drachen steigen lassen -
alles sei verboten. Jeden Tag kamen neue Erlasse. Den Männern
wurde die Bartlänge vorgeschrieben (eine Handbreit), den Frauen
die Burka, also die Verhüllung von Kopf bis Fuß. Alle Mädchenschulen
wurden geschlossen, Frauen durften nicht mehr studieren, nicht mehr
arbeiten, nicht mehr ohne Ehemann oder männlichen Verwandten
in die Öffentlichkeit.
Im ländlichen Süden entsprachen
diese Vorschriften mehr oder weniger den Stammestraditionen. In der
halbmodernen Millionenstadt Kabul lösten sie jedoch eine erneute
Fluchtwelle aus. Vor allem die Leute mit Ausbildung verließen
die Stadt, unter ihnen viele Frauen, von denen das Bildungs- und Gesundheitswesen
wesentlich abhing.
Ich hatte Asef K. vor sechs Jahren in
Kabul kennen gelernt und war ihm nun in Peshawar, wo er als Flüchtling
lebte, wieder begegnet. Der einstige Vertraute Massuds fand nun wenig
schmeichelhafte Worte über ihn. Irgendwas war vorgefallen. Aus
dem Löwen sei ein Fuchs geworden, höhnte Asef; er, der immer
der Jäger gewesen sei, habe aus Kabul davonrennen müssen.
Dieser Macht- und Gesichtsverlust habe seine Ehre zutiefst verletzt.
Massud rede zwar von Frieden, aber er sei jetzt voller Hass. Er sei
egoistisch, machthungrig und sinne nur auf Rache. Asef schimpfte weiter,
bis er kurz innehielt - und schließlich sagte, er sei einfach
böse mit Massud. Ich solle ihm einen Gruß ausrichten und
mitteilen, solange Massud ihn nicht anrufe, rufe er auch nicht an.
Kommandant, was war
der Tiefpunkt in Ihrem Leben?
"Da waren zu viele
traurige Ereignisse, aber jetzt sind wir gewöhnt an die Tragödie
(lacht)."
Welches war der größte
Fehler?
"Wer handelt, macht
Fehler. Das ist die Natur des Menschen."
Etwas konkreter, bitte.
Was ist zum Beispiel mit den Entscheidungen, die zum Fall von Kabul
führten? Sie wurden von den Taliban überrascht.
"Wir hatten das
Wissen über uns selbst, das Wissen über den Feind, wir hatten
eine Vorstellung von der Zukunft, und wir waren vorbereitet auf die
gefährlichen Situationen. Ich hatte absolute Kontrolle. Aber
ich hatte sie nicht über die Verbündeten. Für einige
war es schwierig, obige Punkte zu verstehen. Also machte ich einen
Plan für sie. Aber anstatt ihren Beitrag zu leisten, suchten
sie nur nach ihrem persönlichen Vorteil. Anstatt die Taliban
zu schlagen, diskutierten sie, welche Posten sie übernehmen würden."
Der weitere Durchmarsch der Taliban
im nichtpaschtunischen Norden verlief zwar stockender. Begleitet von
shakespearschen Intrigen, von Verrat und Gegenverrat, von verwirrenden
Frontwechseln und unsäglichen Gräueln, profitierten die
Turbankrieger aber von der notorischen Zerstrittenheit ihrer Gegner.
Mazar-i-Sharif etwa, die Hauptstadt des Nordens, wurde vom Usbeken
Dostam kontrolliert. Wegen einer familiären Blutfehde verriet
ihn dessen Stellvertreter an die Taliban.
Im Frühjahr '97 marschierten diese
ungehindert in die Stadt ein, mussten aber bald wieder flüchten.
Eine Revolte der Hazara war ausgebrochen, die sich auf die ganze Stadt
ausweitete. Die Taliban verloren Tausende von Kriegern, die meist
bestialisch umgebracht wurden.
Dostam, der den Taliban knapp entkommen
war, sammelte seine Truppen und kehrte im Herbst nach Mazar zurück.
Nach schweren Kämpfen konnte er seinen Stammesrivalen aus dem
Land hinauswerfen. Inzwischen hatten aber Hazara-Milizen die Macht
im Chaos von Mazar übernommen, und Dostam musste sich nach einem
neuen Hauptquartier umsehen. Die Taliban warteten ab, bis der Feind
sich genügend zerfleischt hatte.
Dann, im Sommer '98, marschierten sie
ein zweites Mal in Mazar ein und nahmen entsetzliche Rache für
die Toten des Vorjahres. Zwischen 5000 und 8000 Leute wurden erschossen,
erstochen, gehäutet, in Containern erstickt.
Massud hatte den Taliban-Vormarsch immer
wieder gestört, vor allem aber unermüdlich versucht, die
zersprengten Kräfte neu zu bündeln. Aber erst nach dem Fall
von Mazar kam ein neues Bündnis zu Stande. Im Dezember '98 versammelte
er sämtliche Anti-Taliban-Kommandanten im Panshir. Die ausgezehrten
Usbeken- und Hazara-Führer wie auch die Paschtunen-Kommandanten
hatten gar keine andere Wahl, als den Tadschiken Massud zum Befehlshaber
der vereinigten Nordallianz zu ernennen.
In der Nordallianz sind
die gleichen Kommandanten, die 1992 das Land in den Abgrund geführt
haben. Wieso sollte es diesmal denn besser gehen?
"Diesmal konnten
sich alle Parteien darauf einigen, eine Verfassung auszuarbeiten,
die soziale Gerechtigkeit bringt. Alle Volksgruppen und Stämme
werden auf Grund von freien Wahlen proportional in der Regierung vertreten
sein."
Was für einen Wert
hat das Wort eines Mannes wie General Dostam? Er war der Bluthund
der Kommunisten, wurde dann Ihr Verbündeter, um Ihnen mit Hekmatyar
in den Rücken zu fallen. Dann tat er sich mit den Taliban zusammen
und ist nun wieder auf Ihrer Seite.
"Das Fehlen von
Vertrauen ist ein Problem in Afghanistan. Die einen sind besorgt um
ihre Zukunft, die anderen wollen mehr, als ihnen zusteht. Aber trotz
der Vergangenheit haben wir uns für ein gemeinsames Programm
entschieden. Dieses garantiert jedem der Führer seine künftige
Rolle im Land. Auch weiß jeder, dass er alleine keine Macht
ausüben kann. Im Moment geht es gut voran mit der Allianz. Ich
habe die Situation unter Kontrolle, ich sage, wo die Kämpfe begonnen
und wo sie gestoppt werden."
Mit kräftigen Stößen
paddelt der Halbwüchsige unser Floß, ein Lastwagenpneu
mit aufgeschnürtem Bambusgestell, über den Kokcha. Rund
drei Kilometer weiter unten, dort, wo sich ein kahler Felsen aus der
Ebene erhebt, mündet der Kokcha in den Amu Darya, den Grenzfluss
zu Tadschikistan. Auf der anderen Seite erwarten uns usbekische Reiter.
Wir steigen um auf ihre kleinen, beweglichen Pferde und reiten durch
eine paradiesische Landschaft aus Reisfeldern und Schilfdickicht,
Eichenwäldern und Gärten mit Granatapfel- und Aprikosenbäumen.
Schnatternde Kinder auf gescheckten Pferdchen traben vorbei und winken
uns fröhlich zu. Und jedes Mal, wenn in der Nähe das Wummern
der Geschütze zu hören ist, drehen sich die Usbeken lachend
zu uns um, um zu sehen, ob wir erschrecken. Wir sind auf dem Weg zur
Front, aber irgendwie herrscht eine Stimmung, als führen wir
auf eine Hochzeit.
Am Ausgang des Dorfes Kharokh steigen
wir ab. Während unsere Reiter im Schatten eines Baumes zurückbleiben,
führt uns eine Gruppe Mujaheddin über ein offenes Feld.
Einer zeigt mit dem Finger nach rechts. "Dort drüben, etwa
eine Minute entfernt", sagt er ungerührt, "sind die
Taliban. Wäre heute die Sicht nicht so schlecht, könnten
wir hier nicht durch." Ich blinzle seinen Finger entlang. In
kaum 300 Meter Entfernung schwimmen die Umrisse eines Unterholzes
undeutlich im Dunst. Unwillkürlich ziehe ich meinen Kopf ein.
Auf beiden Seiten der
Front stehen Krieger mit Bärten, auf beiden Seiten tragen die
Frauen die Burka. Warum sollte jemand wie ich für die Nordallianz
des Kommandanten Massud Partei nehmen?
"Wir haben eine
sehr klare Botschaft. Erstens: Wir sind für freie Wahlen. Und
wir sind dafür, dass die Uno diese überwacht. Zweitens:
Wir lehnen den Terrorismus in jeder Form ab. Osama bin Laden ist für
uns ein Krimineller. Und Sie wissen, dass es nicht einfach ist, so
etwas zu sagen. Ich habe mein Leben dem Dschihad geweiht. Bin Laden
war ebenfalls im Dschihad. Er ist zum Führer von extremistischen
Gruppen in der ganzen islamischen Welt aufgestiegen. Ich erhielt aus
Dutzenden von Orten in der Welt Anrufe. ,Du bist Muslim', sagten sie
mir, ,warum bekämpfst du Osama bin Laden?' Es wäre einfach
für mich gewesen, ihm zu sagen: ,Du bist nicht unser Feind, mache,
was immer du machen willst, arrangiere dich mit uns.' Aber wir sind
zutiefst gegen seine Überzeugungen. Drittens: Wir sind gegen
das Phänomen Drogen. Zweifellos wird ein Teil der Drogen durch
unser Gebiet transportiert. Sie werden aber noch durch viele weitere
Länder befördert, die im Gegensatz zu uns keinen Krieg haben."
In Ihrem Gebiet wird
ebenfalls Opium angebaut. Wir haben in den Dörfern Felder gesehen.
"In der Provinz
Badachshan gibt es ein paar Kulturen. Ismaeliten leben dort, eine
islamische Sekte, die seit Jahrhunderten süchtig sind. Sie pflanzen
für den Eigenkonsum an. Aber wenn Sie nach Chay Ab ins Gefängnis
fahren, finden Sie dort Rhollam Salim, den Tycoon des Drogenhandels.
In einer einzigen Aktion beschlagnahmten wir bei ihm eine halbe Tonne
Opium. Jetzt sitzt er bereits das dritte Jahr im Gefängnis. Trotz
all seines Geldes und Einflusses."
Die Drogenkontrollbehörde
der Uno ließ unlängst verlautbaren, dass die Taliban die
Drogenproduktion eingestellt hätten. Aber Afghanistan ist weltweit
immer noch Nummer eins der Opium-Produzenten. Woher kommt also das
Opium?
"Die Taliban haben
ausreichend Vorräte, um noch zwei oder drei Jahre weiter zu exportieren.
Es waren im Übrigen die großen Drogenhändler, die
den Produktionsstopp veranlassten, nicht Mullah Omar. Sie wollten,
dass die Preise steigen. Ich habe genügend Informationen über
die ganze Situation. Die großen Pflanzungen liegen im Taliban-Gebiet,
in den Regionen von Jalalabad, Kandahar und Helmand. Die Taliban ziehen
zehn Prozent Landwirtschaftssteuern für die Opiumfelder ein.
Dann kassieren sie eine Fabrikationssteuer: 180 Dollar pro Kilo-Paket,
das offiziell abgestempelt wird. Dann folgen Verkaufssteuer und schließlich
noch eine Transportsteuer, wenn die Ware mit dem Flugzeug zuerst nach
Kabul und dann nach Kunduz geflogen wird. Ohne Stempel und Deklarationen
der Taliban passiert kein Paket die Grenze."
Lassen Sie uns noch
von einem vierten Punkt sprechen: von den Menschenrechten, den Rechten
der Frau.
"Sie haben selber
gesehen, dass hier im Norden oder im Pandshir Frauen arbeiten und
Mädchen zur Schule gehen. Wir hindern niemanden daran. Wir haben
auch Schritte unternommen, um die Lage der Frauen zu verbessern. Für
Sie vielleicht kleine, für ein Land wie Afghanistan aber wichtige
Schritte. Wenn zum Beispiel ein Streit zwischen zwei Clans zu einem
Toten führte, dann musste die schuldige Seite eine Wiedergutmachung
leisten. Sie tat dies, indem sie der Opferseite ein Mädchen oder
eine Frau gab. Das Mädchen wurde nicht gefragt. Ich war immer
gegen diese Sitte und habe sie gestoppt. Eine Frau kann kein Abgeltungsmittel
sein.
Oder ein anderes Beispiel:
Wir erhielten die Information, dass ein Mädchen den Sohn eines
Khans eines mächtigen Stammes heiraten sollte. Die junge Frau
war aber absolut dagegen. Ich ordnete an, dass der Fall untersucht
wurde. Der Khan war stark, er hatte 400 bewaffnete Männer, stand
3000 Familien vor, und er hatte das Mädchen für den Sohn
ausgesucht. Ich sagte dem Khan, dass er das Mädchen nicht zwingen
solle, seinen Sohn zu heiraten, und dass die Regierung ihm helfen
würde, sein Gesicht zu wahren. Er kam zu mir und wollte meinen
Stiefel küssen, und er sagte: ,Tun Sie, was Sie wollen, aber
tasten Sie mein Prestige und meinen Ruf im Dorf nicht an. Lassen Sie
mich die Heirat durchführen.' Immer wieder sagte er mir dies.
Die Unterhaltung gelangte an einen toten Punkt. Logik und Commonsense
halfen nicht mehr weiter. Wir mussten mit dem Einsatz von mehreren
Hundert Bewaffneten drohen. Er sah unsere Entschlossenheit und änderte
seinen Entschluss."
Und Sie haben einen
Feind mehr.
"Reden Sie von
einem kleinen Dorftyrannen, der gegen eine Armee antreten will? Ich
bitte Sie (lacht)."
Nach wenigen Minuten erreichen wir den
Frontposten. Der Kommandant ist ein etwa 40-jähriger Mann mit
melancholischen Gesichtszügen. Er lädt uns in sein Quartier
ein, eine kleine Erdhütte mit einem staubigen Teppich auf dem
Lehmboden, und serviert Tee. Er sei Bauer, erzählt er, und immer,
wenn die Ernte eingeholt sei, gehe er in den Krieg. Seit 20 Jahren.
Er wirkt ein wenig müde. Dann tritt ein jüngerer Kämpfer
in den Eingang. Er trägt eine Rakete und winkt uns heraus. Seine
Kollegen stehen um ihn herum, als er Richtung Feind abfeuert - gut
gelaunt wie Kinder, die Knallfrösche abbrennen. Kurz darauf meint
der Kommandant höflich, es sei wohl besser, wenn wir jetzt gehen
würden. Bald würde nämlich zurückgeschossen.
Eine Gruppe junger Mujaheddin spaziert
mit uns ins Dorf zurück. "Habt ihr keine Angst?", wollen
wir wissen. "Nein, nein", rufen sie, "die Taliban haben
Angst." "Ihr wärt bereit zu sterben?" "Wir
sind bereit zu sterben." "Ihr seid verrückt."
"Ja, wir sind verrückt", lachen sie nur.
Die militärische Landkarte präsentiert
sich heute wie in den 80er Jahren: Die Taliban kontrollieren die Städte
und die Verkehrsachsen wie damals die Sowjets, und Massuds Bündnis
beherrscht das schwer zugängige, gebirgige Landesinnere, von
wo aus es einen Guerillakampf führt. Massud ist der Motor, das
Zentrum, der Kopf. Fällt er, fällt die Allianz, und die
Taliban verhängen ihr freudloses Gottesreich über ganz Afghanistan.
Eine Fortsetzung des Bürgerkrieges wäre garantiert.
Was ist das Wichtigste
im Leben eines Mannes, Kommandant?
"Der Entschluss.
Wenn man einmal den Entschluss gefällt hat, einen Weg zu verfolgen,
wird der Rest einfach. Und jetzt ist unser Entschluss, dass wir nicht
den Taliban weichen. Es ist unwichtig, wie sehr wir dabei leiden."
Sie haben eine junge
Frau und fünf Kinder. Sie könnten nach Duschambe, London
oder Paris gehen und dort in Frieden leben. Nie daran gedacht?
"Nie."
Von geschätzten 21 Millionen Afghanen
leben etwa zweieinhalb Millionen in Pakistan, anderthalb im Iran und
eine in Nordamerika und Europa. Unter ihnen die meisten Gebildeten
des Landes. Neben den Hazara, Tadschiken und so anderen Stämmen
hat sich eine neue Volksgruppe herausgebildet, mittlerweile die größte
des Landes: die Eidipis. Der Begriff stammt aus der Sprache des Internationalen
Hilfswerks und ist die Abkürzung von Internal Displaced Persons,
I. D. P. (Vertriebene innerhalb des eigenen Landes). Die gesamte Bevölkerung
Afghanistans ist nicht einmal, sondern mehrfach vertrieben worden.
Die größte und einzige funktionierende Fabrik des Landes
steht in Kabul. Sie produziert Bein- und Armprothesen in allen Größen
für die täglich neuen Minenopfer. Zu der Geißel des
ins 24. Jahr gehenden Bürgerkrieges sind seit drei Jahren noch
die biblischen Plagen Dürre, Hungersnot und Erdbeben hinzugekommen.
Wer immer die Macht in Kabul erringen wird - er wird eine Katastrophe
erben.
Am 10. September, kurz nach unserem
Interview, wurde Massud Opfer eines Attentats. Unter dem Vorwand,
ihn für eine arabische Zeitung interviewen zu wollen, hatten
sich zwei islamistische Terroristen Zugang zu ihm verschafft. Im selben
Raum in Khwaja Bahauddin, wo Massud uns sein letztes großes
Interview gegeben hatte, zündete einer der beiden Terroristen
die auf seinem Körper und in der Kamera versteckten Bomben. Der
Übersetzer Massuds, zwei Bodyguards und der Attentäter wurden
zerfetzt und waren sofort tot. Der zweite Attentäter wurde bei
seiner Flucht aus dem Haus erschossen. Massud wurde schwer verletzt
ins tadschikische Duschanbe geflogen.
Am folgenden Tag, dem 11. September,
dem Tag der Terror-Attacken in New York und Washington, versuchten
die Taliban die Front von Massuds Truppen zu durchbrechen, um auch
noch den Rest Afghanistans unter ihre Kontrolle zu bringen. Der Angriff
misslang, aber Massud erlag am 12. September seinen Verletzungen.
Sechs Tage später wurde sein Tod offiziell bestätigt. Noch
auf dem Totenbett hatte Massud seinen bisherigen Stellvertreter Mohammed
Fahim mit der Leitung im Kampf gegen die Taliban beauftragt.